Made in France Europe (Kurzfassung)

Der Text ist am 26.01.2021 auch als Beitrag in dem Magazin Maddyness erschienen.

Dominiert von einer Handvoll amerikanischer und chinesischer „Tech-Giganten“, deren Macht mit jedem Tag zunimmt, fällt es der „French Tech“, zu der auch Gymglish gehört, schwer, die Landesgrenzen hinter sich zu lassen. Es ist Zeit, unsere Horizonte zu erweitern und der nationalen Denkweise eine pragmatische Politik auf europäischer Ebene vorzuziehen.

Hinweis: Die lange Version dieses Beitrags finden Sie hier.

Von Lebensmitteln über die Modebranche bis hin zum Gesundheitswesen ist das Label „Made in France“ derzeit stark im Aufwind. Noch nie hat es so viele Produkte und Serviceleistungen mit der kleinen Trikolore1 auf dem Etikett gegeben. Das Streben nach Qualität, wirtschaftliche Solidarität und der Kampf gegen Abhängigkeit können diese Begeisterung für französische Produkte zwar schlüssig erklären. Doch muss man auch klar erkennen, dass der Sektor der neuen Technologien nicht dem gleichen Paradigma folgen kann.

Seit einem Jahrzehnt ist unsere technologische Abhängigkeit zu einer wahren Unterwerfung geworden, allerdings nicht gegenüber anderen Ländern, sondern hinsichtlich Privatunternehmen. Software und Daten sind mit noch größerer Geschwindigkeit im Umlauf als Handelswaren, alles sieht sich unmittelbar mit dem internationalen Wettbewerb konfrontiert, und die Monopole nordamerikanischer und asiatischer Start-ups gewinnen immer mehr an Macht.

Während diese Imperien uns einerseits unzählige wichtige Dienste leisten, vermarkten und verarbeiten sie andererseits ohne Einschränkung unsere Daten. Sie bestimmen, was wir mögen, sehen und kaufen, werfen unsere Wirtschaftsgefüge über den Haufen und beeinträchtigen unsere Demokratien. In diesem Kontext steht „Made in France“ für eine Art Widerstand, der zu Zusammenhalt aufruft und das Know-how unserer Ingenieurinnen und Ingenieuren bündeln möchte, der unsere Unternehmen unterstützen und daran erinnern will, dass man auch in Sachen Technologie in vielen Fällen sein Glück in Frankreich finden kann. Die Idee ist verführerisch, aber Solidarität und Unabhängigkeit sollten sich nicht auf die nationale Reichweite beschränken.

Dass die amerikanischen Start-ups so wettbewerbsfähig sind, liegt nicht daran, dass sie bessere Ingenieure und Ingenieurinnen beschäftigen – die kommen tatsächlich aus allen Ecken der Welt. Die Giganten des Silicon Valley haben ihre Innovationen auf einem lokalen Primärmarkt von über 320 Millionen Menschen getestet, entwickelt und finanziert – bei Mitbürgern eines Landes, die ähnlich ausgestattet und vernetzt sind und von den gleichen großen kulturellen Einflüssen, Konsumgewohnheiten und Handelsregeln beherrscht werden. Gleiches gilt für die chinesischen Unternehmen und ihren lokalen Markt von 1,3 Milliarden Verbrauchern. LinkedIn beispielsweise, Gigant im Bereich der sozialen Netzwerke für Geschäftskontakte, ist heute Teil des Super-Giganten Microsoft (dem wir so jeden Tag kostenlose detaillierte Auskünfte über unsere beruflichen Beziehungen, Kompetenzen, aktuellen Tätigkeiten und Meinungen geben – also einen wahren Schatz!) und hat seine beiden wichtigsten europäischen Rivalen, das französische Netzwerk Viadeo und das deutsche Unternehmen Xing, vernichtet.

Nein, die amerikanische Technologie ist der unseren nicht fundamental überlegen. Es setzt sich einfach das Netz durch, das die meisten Menschen miteinander verbindet. Weder Frankreich mit seinen 66 Millionen Einwohnern noch Deutschland mit seinen 83 Millionen konnten da mithalten. Europa hätte gekonnt.

Erst kürzlich haben wir am Knotenpunkt von Technologie und Gesundheitswesen, und ohne jedes geschäftliche Interesse, unsere Unfähigkeit unter Beweis gestellt, zusammenzuarbeiten, um uns auf eine gemeinsame europäische Warn-App zur Nachverfolgung von Covid-19 zu einigen. Jeder hat in seiner Ecke seine eigene kleine Software zusammengebastelt. Das Virus genießt seine Reisefreiheit, während die Zusammenarbeit an den Grenzen gestoppt wird. Ein einzelnes Land kann nicht alles. Europa jedoch kann zahlreichen wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und gesundheitlichen Fronten die Stirn bieten.

Die EU sollte für jedes französische Start-up das erste Spielfeld sein

Erinnern wir uns daran, dass Europa in erster Linie der Lebensraum von 450 Millionen Menschen ist, die zwar eine große sprachliche und kulturelle Vielfalt aufweisen, doch über eine relativ einheitliche Ausstattung und ähnliche Konsumgewohnheiten verfügen, vor allem, wenn man diese mit denen der asiatischen oder amerikanischen Internetnutzerinnen und -nutzer vergleicht. Europa, das ist auch eine Währung, ein innergemeinschaftliches Mehrwertsteuersystem und eine gemeinsame Regelung. Einige mögen der Ansicht sein, die Befugnisse der Europäischen Union gingen zu weit oder, im Gegenteil, nicht weit genug. Jedenfalls bietet die EU unseren Unternehmen einen Rahmen für ihre Geschäftstätigkeit, und die jungen französischen Start-ups könnten den europäischen Markt ebenso spontan für sich nutzen wie ein kalifornisches Start-up den amerikanischen Markt.

Eine gemeinsame Regulierung mag zwar auf den ersten Blick nicht sehr aufregend klingen, aber dahinter verbergen sich gemeinsame Werte, die wir verteidigen. So verdanken wir Europa beispielsweise die Datenschutz-Grundverordnung, die erste und einzige konkrete Antwort auf den Missbrauch, der mit unserer Zustimmung zur Bearbeitung unserer Daten betrieben wird. Mit dieser Bestimmung und nach zahlreichen Prozessen scheint die Europäische Union heute die einzige öffentliche Einrichtung zu sein, die sich den Giganten des Silicon Valley entgegenstellt. Und schließlich ist Europa auch das Schengener Abkommen, und das ist nicht nichts.

Die Ingenieurinnen und Ingenieure bei Gymglish stammen aus Frankreich, Schweden, Rumänien, Deutschland und Moldawien, aber auch aus Israel, Kamerun und China. Nach Frankreich verschlagen hat sie die Aussicht auf ein europäisches Arbeitsvisum. Neben den Ingenieuren und Ingenieurinnen umfasst unser rund 50 Personen starkes Team 15 verschiedene Nationalitäten, darunter 8 aus Europa, und spricht 17 Sprachen. Wir hätten uns und unsere Fähigkeit, ebenso einfach Europäer*innen zu beschäftigen wie wir früher Franzosen und Französinnen beschäftigt haben, ohne den Schengen-Raum nicht entwickeln können.

In Richtung European Tech

Natürlich gibt es auf der Ebene unserer Städte und Regionen noch immer viele Initiativen, und die Bemühungen, lokale Gefüge aufzubauen, sind deutlich spürbar. Über die Nation hinaus sieht es allerdings ruhiger aus. Europäische Labels werden kaum beworben und sind kaum bekannt. 2015 hat Emmanuel Macron, damals Wirtschaftsminister, uns und unsere Kolleginnen und Kollegen des französischen Technologiesektors nach Bercy2 eingeladen, um das Label „French Tech“ zu fördern und die hervorragenden Leistungen unserer Ingenieur*innen, Schulen, Labors und Start-ups zu loben. Bei Champagner und Petits Fours.

Kein Wort zu Europa und den nicht weniger hervorragenden Technologiebranchen unserer deutschen oder skandinavischen Nachbarn zum Beispiel. Kein Wort zu unserem gemeinsamen Interesse, insbesondere im Bereich der Technologie, aber auch daran, als Europäer*innen zusammenzuarbeiten und solidarisch zu handeln. Natürlich ging es auch zu keinem Zeitpunkt darum, unsere französische „Exzellenz“ eventuell zu relativieren. Da hätte man uns schnell des „French Bashings“ verdächtigt.

Wir sind ein Unternehmen „Made in France“ und, daran besteht kein Zweifel, stolz darauf. Aber unser Unternehmen ist nicht nur französisch. Es ist auch europäisch. In Zeiten des Brexits und einer beunruhigenden Zunahme populistischer Strömungen darf Bercy uns als Akteure der französischen Technologiebranche gerne erneut einladen, aber diesmal zusammen mit unseren europäischen Kollegen, um unsere „French Tech“ zum Beispiel in „European Tech France“ umzubenennen.

Champagner und Petits Fours sind natürlich willkommen, ein weniger frankreichbezogener Vortrag allerdings auch. Nur mit stolzem Hahnengekrähe3 werden wir unsere Schlachten nicht gewinnen. In der Technologie – und hier vielleicht dringender als in anderen Bereichen – ist es wichtiger denn je, unser Know-how, unsere Solidarität und die Kontrolle über unser Schicksal auf europäischer Ebene zu bündeln.

Benjamin Levy, Mitbegründer von Gymglish


 1 Eingedeutschter, aus dem Französischen stammender Begriff, der die Flagge Frankreichs bezeichnet.

 2 Sitz des französischen Wirtschaftsministeriums.

 3 Das Wappentier Hahn gilt als Symbol für Frankreich.


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