Alltag im Unternehmen: Das Büro ist tot, es lebe das Büro!

Gruppenbild veröffentlicht in der Zeitschrift „Management“ am 20.08.2020. In der digitalen Welt halten einige Zukunftsforscher*innen das Büro – insbesondere das Großraumbüro – mit seinem Präsenzmodell, das seit dem Lockdown Gegenstand zahlreicher Diskussionen ist, bereits für Geschichte.

Aber greifen wir nicht zu weit vor. Natürlich hat die Zeit im Home-Office gezeigt, dass einige berufliche Tätigkeiten vollständig aus der Distanz ausgeübt werden können. Übrigens gab es das „bürolose“ Unternehmen mit seinen zahlreichen Vorteilen – umweltfreundlicher, weniger Pendelzeit, geringere Mieten – bereits vorher. Dennoch ist das (gute alte) Büromodell noch nicht abgeschrieben. Der Alltag im Unternehmen kann sogar bereichernd sein, und es ist kein altmodischer Gedanke, das Büro auch als Teil der Welt von morgen in Betracht zu ziehen. Fünf Argumente, das Büro zu rehabilitieren.

1) Das Unternehmen ist ein menschliches Abenteuer

Technisch gesehen und schon allein durch die Tätigkeit im Bereich E-Learning sind bei Gymglish alle Bedingungen für den Verzicht auf Präsenzarbeit gegeben. Doch auch wenn die Krise deutlich gemacht hat, dass alle unsere Mitarbeiter*innen von zu Hause aus arbeiten können, ist systematisches Home-Office kein Ziel für uns.

Man würde der Sache nicht gerecht, wenn man meinte, dass Mitarbeiter*innen einzig  im Büro sind, um Aufgaben zu erledigen und im engsten Sinne des Wortes produktiv zu sein. Ein Unternehmen basiert  auch auf zwischenmenschlichen Beziehungen, Menschen, die einander helfen, diskutieren, Witze machen, Anweisungen formulieren, eine angespannte Lage beruhigen, sich besprechen, sich anschnauzen, sich wieder vertragen. Ein Unternehmen ist eine gesellschaftliche Gruppe. Es  ist schließlich kein Zufall, wenn man bei einer Firma auch von einer „Gesellschaft“ spricht!

2) Büros neu konzipieren, anstatt sie abzuschaffen

In gewisser Weise macht der Arbeitsplatz einen Teil der Seele eines Unternehmens aus. Aber damit das funktioniert, darf die Geschäftsleitung das Büro nicht mehr ausschließlich im Sinne von Produktivität und Funktionalität gestalten – die kann man übrigens auch bei sich zu Hause optimieren, wenn man sich dort sein „Büro“ einrichtet.

Der Arbeitsplatz ist vor allem ein Lebensraum, ein Ort, an dem man Zeit verbringt und sich wohlfühlen soll. Eine einfache und unverzichtbare Regel, die wir für uns festgelegt haben, lässt sich in m2 ausdrücken: Die Fläche, die nicht der eigentlichen Bürotätigkeit gewidmet, sondern für Mahlzeiten, Pausen, informelle Besprechungen und Momente der Erholung vorgesehen ist, sollte weit größer sein als das strikte Minimum. Sie sollte  sogar mit der Bürofläche gleichauf liegen (ein Ansatz, der sich in der Zeit nach dem Lockdown übrigens als sehr wichtig herausgestellt hat). Je komfortabler der Arbeitsplatz, desto mehr eint und fördert er menschliche Interaktionen. Das sollte natürlich nicht dazu führen, dass Angestellte länger im Büro bleiben, was einigen kalifornischen Start-ups vorgeworfen wird. Es geht einfach darum, die Zeit im Büro zu genießen: Erfahrungsgemäß bleiben die meisten Menschen nicht gerne sieben Tage in der Woche zu Hause. Dem Büro als Ort Bedeutung zuzumessen, bedeutet eben auch nicht, ihn nicht hin und wieder oder auch regelmäßig (zum Beispiel einen oder zwei Tage pro Woche) zu verlassen, um von zu Hause aus zu arbeiten, je nach Persönlichkeit und Aufgabenbereich der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter.

3) Aus dem Lockdown lernen

Die allgemeine Einführung des Home-Office während des Lockdowns hat auch innovative Initiativen ins Leben gerufen, die im Büro der Zukunft durchaus einen festen Platz haben sollten!

Warum sollte man beispielsweise nicht die Kinder der Mitarbeiter*innen am Arbeitsplatz betreuen, in einem entsprechend eingerichteten Raum mit Büchern, Malstiften und Zeichentrickfilmen, zum Beispiel bei Schulstreik oder wenn Babysitter oder Babysitterin krank sind? Diese von den Angestellten bei Gymglish (und deren Kindern!) befürwortete Möglichkeit würde den Unternehmensalltag und die Bedeutung des Ortes Büro bereichern. Auch Haustiere, deren Anwesenheit während des Lockdowns für viele beruhigend war, könnten eventuell am Arbeitsplatz erlaubt werden.

Ein weiteres Beispiel sind versetzte Arbeitszeiten: Die Gesundheitskrise hat vielen Manager*innen die Augen für die Ungleichheiten geöffnet, die aus dem Pendelverkehr hervorgehen. Die Entscheidung, die Arbeitszeiten der Mitarbeiter*innen anzupassen, damit diese die Hauptverkehrszeit vermeiden können, entspricht aus heutiger Sicht ganz einfach dem gesunden Menschenverstand.

4) Berufs- und Privatleben trennen

Und weil Dinge, die sich von selbst verstehen, noch besser verstanden werden, wenn man sie ausspricht: Wenn man den Mitarbeiter*innen einen Arbeitsplatz zur Verfügung stellt, ermöglicht man ihnen auch, diesen nach ihrem Arbeitstag zu verlassen.

Denn genau darin besteht das große Risiko des permanenten Home-Office: die Grenze zwischen Privat- und Berufsleben zu verwischen. Unter dieser Schwachstelle litten während des Lockdowns übrigens viele Berufstätige, die Arbeitszeit und Freizeit nicht immer voneinander trennen konnten. Das bürolose Modell mag cool, modern und flexibel erscheinen… Aber konkret erfordert die Arbeit im Home-Office ein hohes Maß an Selbstdisziplin und die Fähigkeit, den Tag strikt einzuteilen (und diese Fähigkeit hat nicht jede oder jeder von uns). Das Büro abzuschaffen bedeutet, einen Alltag zu schaffen, der lange nicht allen zusagt. Nach 15 Jahren Home-Office-Erlaubnis bei Gymglish, zahlreichen Streiks im öffentlichen Pariser Nahverkehr und der Lockdown-Erfahrung sagen fast 100 % der Kolleginnen und Kollegen, dass sie gerne ins Büro zurückkehren.

5) Abwechslung zwischen Büroalltag und punktuellem Home-Office schaffen

Das kollektive Leben im Büro trägt auch zu einer  Fülle individueller Projekte bei – sozusagen durch Gruppenemulation. Die Manager*innen achten mehr auf die Karrierewünsche ihrer Mitarbeiter*innen und haben deren Tätigkeiten stärker im Auge. Im Büro zu arbeiten bedeutet auch nicht, 100 % seiner Arbeitszeit dort zu verbringen. Es besteht kein Zweifel daran, dass immer mehr Unternehmen punktuelle und regelmäßige Arbeit im Home-Office anbieten werden – von zu Hause aus, aber auch auf Reisen, auf dem Land, im In- oder im Ausland, für einen festgelegten Zeitraum (Work & Holidays). Diese „Abstecher” und die anschließende Rückkehr ins Büro bereichern ebenfalls den Alltag im Unternehmen!

Von Benjamin Levy, Leiter des Online-Sprachkurs-Anbieters Gymglish



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